Und dann ist man ganz plötzlich selbst in dem Alter, in dem in der eigenen Kindheit vieles noch ganz anders war (ja, damals, vor dem Krieg). Gestern im Gasthaus im Nachbardorf bei der Nachdemessenzigarette* vor der Tür, haben wir uns erinnert, dass man die Kinder von hier früher immer sofort erkennen konnte: Riesige Köpfe, Überbiss, gedrungene Gestalt und der Geruch nach Kuhstall.
Das Gasthaus war dunkel getäfelt, am Stammtisch wurde ab dem Frühschoppen gebechert, gequalmt und Skat gespielt. Es gab einen Kachelofen und eine Ofenbank. Die Dekoration bestand aus den Pokalen des überregional erfolgreichen Sportvereins, aufgereiht über der Theke und Urkunden von Schützen- und Männergesangsverein an der Wand. Ich habe mich immer ein bisschen vor den lauten alten Männern gefürchtet. (Heute gibt es helles Furnier, Fliederfarben gemusterte Kissenbezüge und Kunstblumensträusschen. Mozzarellaschnitzel, vegetarische Maultaschen und alkoholfreies Weizen. Ich fürchte mich vor anderen Dingen.)
Auf dem Hof unserer Nachbarn schliefen jeweils vier der acht Kinder in einem Zimmer, praktischerweise waren es vier Mädchen und vier Jungen. Beheizt waren nur Küche und Stube, die Schlafzimmer bekamen etwas Wärme vom darunter liegenden Kuhstall. Es gab ein Plumpsklo im ersten Stock und den Hintern hat man sich mit Zeitungspapier abgewischt, das man nicht ins Klo werfen dürfte, sondern in einen Eimer daneben. Eine Badewanne aus Metall auf vier Füssen, in der die Kinder nacheinander gebadet haben. Einmal die Woche(?). Die GUTE Stube, wo auch der Fernseher stand, wurde nur am Sonntag genutzt. Ferngesehen wurde eigentlich nie, oft haben wir was gespielt und uns dabei gestritten. Am liebsten Murmelmikado. Ich habe immer verloren.
Geheizt wurde mit Holz, das Brot wurde auf Vorrat selbstgebacken, geschnitten am Tisch vom Vater, der den ganzen Laib an seinen Oberkörper presste und horizontal zu sich hin säbelte. Ich hab immer den Atem angehalten, so gefährlich kam mir das vor. Abends gab es ein Vesper mit Most, Brot und Speck. Mittags wurde für alle was Warmes gekocht, auf und im Holzherd.
Wenn geschlachtet wurde, waren die Nachbarn zum Kesselfleisch eingeladen, in der riesigen Küche war der Metzger noch damit beschäftigt, Wurst zu machen (natürlich die beste Wurst der Welt) und wir Kinder vertrieben uns die Zeit damit, zu versuchen, uns gegenseitig die (echten) Ringelschwänzchen mit einer Sicherheitsnadel anzustecken. Für meine Familie wurde immer ein halbes Schwein mitgemästet. Irgenwann bekamen wir die Schinkenkeulen und den Speck, die dann bei uns daheim in einem Drahtschrank in der Garage an Fleischerhaken aufgehängt wurden. Die Garage roch eigentlich immer nach Rauchfleisch. Die frischen Sachen kamen in eine riesige orangefarbene Tiefkühltruhe.
Jeden zweiten Tag brachte uns das jüngste Nachbarkind zwei Liter Milch, abgefüllt in die klobigen Saftflaschen der 70er Jahre. Oft war sie noch euterwarm und hat nach Kuhstall gerochen. Bis heute verabscheue ich Vollmilch.
Gespielt haben wir am Liebsten in der Scheune, sind in zwölf Meter Höhe über die morschen Balken balanciert und haben komplizierte Höhlensysteme im Heu gebaut. Manchmal sind wir wo runtergefallen, aber schlimme Unfälle gab es keine. Bienenstiche jede Menge, denn wer mutig war, ging in die Nähe des Bienenhauses. Was natürlich nicht erlaubt war. Spielsachen außer ein paar Gesellschaftsspielen hatten die Kinder keine.
Heute gibt es noch zwei Schweine, zwei Kühe und zwei Ponys, wegen der Feriengäste, ansonsten wird nur noch ein bisschen Ackerbau betrieben. Der Hoferbe trägt ein Basecap beim Traktorfahren. Die Familie hat ein richtiges Badezimmer mit Wasserklosett und eine Zentralheizung. Sie können zusammen in Urlaub fahren und die Kinder gehen aufs Gymnasium (wobei seinerzeit fünf der acht Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machten, zwei haben promoviert). Müssen nicht mehr so früh aufstehen zum Melken. Im Hof steht ein großes Trampolin und es gibt einen Basketballkorb und einen Grillplatz.
Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand auf den Nachbarhöfen im Sommer draußen saß, überhaupt eine Draussensitzmöglichkeit hatte. Von Grillen ganz zu schweigen. Inzwischen gibt es die eine oder andere Ruhebank an der Westwand, Richtung Sonnenuntergang. Ich freue mich immer, wenn ich die Alten sitzen sehe. Dass die überhaupt mal zu Sitzen kommen. Früher sind sie meist vorher gestorben.
* K. Krömer zu H. Schneider, der sich seine einzige tägliche Zigarette anzündet: Was, Sie gehören zu denen, die EINE Zigarette am Tag rauchen? Schneider: Ne, ich bin Nichtraucher. Genau.
Hübsche Erinnerungen. (So viele haben gar keine.) Ich war ja immer nur zu Besuch.
Wie schön! Und wie schön, dass es noch erkennbar ist.
Unser Nachbarhof ist völlig umgebaut, statt Kuhstall Ferien auf dem Bauernhof. Es sei ihnen gegönnt. (Aber schade ist’s schon).
Ich ja gewissermassen auch (zu Besuch). Bei mir zuhause war es wesentlich weniger exotisch. Eher so Sesamstrasse und Dolomiti.
ich denke ja, dass sich in den letzten paar jahrzehnten mehr geändert hat als in vielen hundert jahren davor und danach, und dass die heutigen kids nur noch unterschiedliche bestriebssysteme erinnern werden und vielleicht noch die zeit vor und nach dem 3d- drucker, während sie noch murmeln kennen, und „verlieren“, und ringelschwanzbroschen (die sind schon ziemlich sensationell) und überhaupt das richtige leben.
Was mir absolut anders vorkommt, ist das alle Informationen (auch die über Mode, Status usw.) auch in die ärmste Hütte gelangen. Niemand und nichts ist mehr so RICHTIG altmodisch und ab vom Schuss. Was ich auf eine ungerechte nostalgische Art schade finde.
Meinen Sie wirklich, dass die Kinder nicht mehr richtiges Leben erleben? Das wäre ja schrecklich! Dagegen müssen Sie was tun!
Wow – schöne Erinnerungen! Einiges kommt mir auch noch sehr bekannt vor, obwohl ich ja in der Stadt aufgewachsen bin. Insbesondere Zeitungstoilettenpapier.
Irgendein Familienmitglied musste die Zeitung in passende Stücke zu schneiden. War bestimmt eine Mädchenaufgabe ;)