Vinho Verde und die Blaue Moschee

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Die Greisin erzählte gestern, der Montez senior hatte 1964 mit seinem (einzigen) Freund und Kollegen Fritz bei einer seiner Lissabondienstreisen am letzten Abend soviel Vinho verde getrunken, dass die zwei am folgenenden Morgen das Flugzeug verpassten. Damals hat man vermutlich noch dem Fräulein am Schalter zugezwinkert und das nächste bestiegen. Kein Problem, Senhor. Fräuleins zuzwinkern konnte er gut.

Der alte Montez und ich. So viele Jahre Streit und Geschrei. Eigentlich ab dem Ende meiner Kindheit. Als ich dreizehn war, war er 66. Geboren während des ersten Weltkrieges, eine wahrlich andere Generation. Erziehungsversuche mit Ausdrücken wie ungehörig und dem berüchtigten Solange Du Deine Füße noch unter meinen Tisch stellst. Manchmal, wenn ich an ihn denke, wünsche ich mir, ich hätte ihn als Erwachsene kennen gelernt. Er war ein interessanter Mann, schier unbeirrbar, exzentrisch und eigenbrötlerisch. Er hat die Leute verärgert und verprellt mit seinem Wechseln zwischen Impulsivität und Schweigsamkeit gepaart mit einem absoluten Mangel an Einfühlungsvermögen, heute denke ich, menschliche Reaktionen waren ihm völlig rätselhaft. Als ich vor langer Zeit in einem ZEITdossier das erste Mal über das Asperger Syndrom las, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Warum heult sie denn fragte er mich arglos, wenn er meine Mutter wieder mal grobklotzig zur Verzweiflung getrieben hatte. Als ich auf seine versteinerten Absolutheiten (natürlich braucht die Menschheit die Atomkraft. Das bisschen Radioaktivität [Tschernobyl] schadet niemandem. Klimawandel: lächerlich) nicht mehr sofort und ausschließlich mit Wutgeheul reagiert hätte, wusste er gar keine Antworten mehr.

Ich reiste nach Istanbul, ihn im Gepäck, die Silhouette der blauen Moschee kannte ich von frühester Kindheit, denn in seiner Freizeit erforschter er Fehldrucke und Fälschungen türkischer Briefmarken vor Neunzehnhundert. Da war die überall drauf (als ich sehr klein mal mit zur Post genommen wurde, fragte ich, als ich die Briefmarken sah, ob das hier die Türkei sei). Und dann stand sie da. In echt.

Mit Anfang siebzig lernte er zwei Programmiersprachen (1989) und war der erste Prüfer, der ein (selbstgebautes) Grafikprogramm für seine Gutachten einsetzte. Die Türkei hat er geliebt. Ich hätte ihn so gern noch so viel gefragt.

8 Gedanken zu „Vinho Verde und die Blaue Moschee

  1. kid37

    …in seiner Freizeit erforschte er Fehldrucke und Fälschungen türkischer Briefmarken vor Neunzehnhundert.

    Was für ein Bild! Als Menschen noch richtige Beschäftigungen hatten und nicht ausschließlich Flatscreens berülpsten. Gut, daß Sie Ihre Füße unter seinen Tisch stellen konnten.

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  2. montez

    Ansonsten hat er noch alte Uhren gesammelt, auseinandergebaut, an der Mechanik gefeilt und sie wieder zusammengesetzt. Überall finde ich beim Ausräumen Zeiger, Gewichte und Zahnräder. In allen Größen. Brauchen Sie welche?

    Die Mutter wäre froh gewesen, er hätte mal den Garten umgegraben. Und ich wäre froh gewesen, er hätte mich zwischendurch mal für vollgenommen.

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  3. kreuzberg südost

    Schicker Vater, und interessant dazu! Asperger wäre eine gute Erklärung, aber sicher kein Trost für´s nicht Ernst-genommen-werden, oder sich der versteinerten Absolutheit chancenlos gegenüber zu sehen.
    Ja, man hätte sie so gerne noch so vieles gefragt.

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  4. kreuzberg südost

    Deplazierter Kampfgeist. Kenn ich. Manches tue ich mit zu viel Wucht.
    Bei mir war die Mutter der Granitfelsen, an dem ich mir die Zähne ausgebissen habe. Heute ist sie, an Alzheimer erkrankt und beinahe jeder Erinnerung beraubt.
    Schwierig und stur ist sie immer noch.

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  5. montez

    Achjeh. Riesige Aufgaben. Eine Beziehung zu sortieren, mit jemandem, mit dem man sich nicht mehr intellektuell auseinandersetzen kann. Der aber noch genauso schwierig ist wie eh.

    Für uns bot die Zeit der Krankheit die Möglichkeit zu Versöhnung und Annäherung, aber eben keine Begegnung auf Augenhöhe.

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  6. montez

    Vermutlich hat das meinen mitunter deplatzierten Kampfgeist geformt. Chancenlos, genau so hat es sich angefühlt.
    Da wurde die Vehemenz umso größer.

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