Bin spät dran. Tage her, dass ein Beitrag des Kiezneurotikers wieder mal eine Erinnerungskette noch unübersichtlichen Ausmasses ausglöst hat.
Ostberlin der frühen 90er Jahre, auch wieder mal. Freundin R. musste umziehen, eine der ersten Sanierungen hatte sie aus der sogar für damalige Verhältnisse billigen Wohnung in der Schliemann Strasse vertrieben. Diese Wohnung war ein wichtiger Ort. Trotz Parterre war es da warm. Es gab Öfen. Die Öfen funktionierten UND es gab Kohlen. Es gab sogar ab und zu jemanden, der die Kohlen nachlegte. Es gab was zu essen. Und fast immer was zu rauchen und zu trinken. Alle gingen dort ein und aus, was einfach war, man konnte von der Straße durch ein Fenster klettern und war gleich mittendrin. Wer genau dort wohnte, war unübersichtlich, im Wesentlichen aber noch der G., der sich von der R. unter anderen dadurch unterschied, dass er aus einem steinreichen Elternhaus kam. Den Stammbaum der R. kann man zwar mühelos bis zu Karl dem Grossen zurückverfolgen, einschliesslich des engen Grades der Verwandtschaft, ansonsten hatte ihre Sippe wenig zu bieten, weswegen die R. vormals auch regelmässig wegen Frechsein um ihr Stipendium gezittert hatte. Stipendium an einem Internat, welches die verbindende Gemeinsamkeit des harten Kerns war.*
Der G. wiederum versuchte verzweifelt, sich vom heimischen Schotter, verdient mit einer Wurstfabrik, zu emanzipieren. Hatte sich mit den Eltern überworfen und lebte von zweifelhaften Tätigkeiten. Ich kann mich kaum erinnern, womit genau diese traurige Versammlung die Zeit zwischen ihren elenden Jobs verbrachte. Hauptsächlich wohl mit Trinken, Rauchen und Rumsitzen. Gesprochen wurde wenig. Selten mal spielte man merkwürdige Assoziationsspiele mit merkwürdigen Assoziationen. Manchmal, wenn einer ein bisschen Geld hatte und Abwechslung oder noch mehr Stille suchte, oder wenn die Kohlen mal alle waren, ging man nach gegenüber ins Kiryl, ein kleines Café, das zum Galrev-Verlag gehörte: So eine Butze mit türkiser Schwammtechnik an der Wand und Literatenpublikum, wie es sie heute nicht mehr gibt. Der Verlag existiert noch, sagt Wikipedia.
Nur an einen einzigen Abend erinnere ich mich deutlich, es war Silvester, ein paar von den Jungs waren losgegangen, um neue Zigaretten zu holen. Nach einer Weile kam der eine wieder, murmelte etwas unverständliches, wühlte in der Küche herum und verschwand dann wortlos. Etwa eine halbe Stunde später waren alle zusammen zurück. Freudestrahlend. Mit dem Automaten. Er habe das Geld nicht wieder rausgegeben, da hätten sie ihn halt abgeflext. Zigaretten gab es dann. Allerdings nur sowas wie F6 und Karo, schliesslich war hier Ostberlin. Jeder bekam später eine Tüte voll mit nach hause, Geld war fast keins drin. **
Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Die R. musste also umziehen und fand eine riesige dunkle noch billigere Wohnung in der Torstrasse. Die war damals ein öder Ort, auf eine andere Art als heute. Mit ihr übersiedelte auch der Rest, und das Leben nahm seinen trägen Lauf in neuer Umgebung wieder auf. Auch dort wurde gesessen, gedreht, geraucht, getrunken und geschwiegen. Manchmal gab es auch eine richtige Party, alle zogen komische Kleider an und waren kurzzeitig sehr ausgelassen.
Auf einer von denen traf ich auch den Schimanski das erste Mal. Er hinterliess den schlechtestmöglichen Eindruck. So ein angeberischer Filmarsch halt. War ein Freund vom L. Der L. hatte richtige Arbeit. Als Schauspieler. Und Geld. Er zog in der Torstrasse ein, brauchte was zum pennen wenn er drehte, denn er war aus Köln. Irgendwann eröffnete gegenüber ein Vorbote der späteren Entwicklungen: So eine Feinkostklitsche. Der L. kam abends regelmäßig mit Tüten voll in Papier eingeschlagener Cremant-Flaschen. Fenchelsalami. Pecorino. Er liebte Gesellschaft, dafür war ihm nix zu teuer. Und wir den L.. Recht glücklich machen konnten wir ihn dennoch nicht, er vermisste seine Stammkneipe mitsamt exzentrischer Belegschaft. Eine Legende: Das Durst (in dem auch ich schon allerhand denkwürdige Nächte verbracht habe). Es war eine Not. Bis, und hier endlich die heissersehnte Kurve: Das Schmitz eröffnete. Ich rollte mit den Augen, kein Jahr gab ich dem, schon der Schriftzug. Der L. jedoch war im Glück. Jeden Abend. Und ich hab mich rasch an das zweite Wohnzimmer gewöhnt. Er wohnt im Westen inzwischen, aber wenn er in der Nähe ist, schaut er vorbei. In der Wohnung der R. wohnt ihre kleine Schwester, alle anderen sonstwo. Das Schmitz gibts immer noch. Hoffentlich noch lange. Manchmal geschehen ja Wunder.
* Wer mehr über die vielfach vernachlässigten depressiven Wohlstandskinder lesen möchte, versuche es mit Christian Krachts Faserland, welches mich völlig unberührt liess, das Internatsmillieu aber gut beschreibt.
** Falls Sie also vor langer Zeit an Neujahr mal im P’berg Kippen holen wollten und dort, wo Ihr gewohnter Automat hing nur noch auf eine leer Wand starrten: Wir waren das.