Schrättle

Wissen Sie, ich bin Altsaxophonistin, ich erkenne die Schwermut in den Menschen, auch wenn sie sich verstellen. (Hä?) Sie ist mir unsymphatisch, hat sehr lange gelbe Zähne (ob das vom Saxophonspielen kommt?) und dunkelrotgefärbtes Haar. Ich bin nicht traurig sage ich, und sie Doch, Du hast keinen Mann, kein Kind, Du bist krank, natürlich bist Du traurig. Dann wache ich auf.

Immer wieder die Seite von WH anklicken und immer wieder den gleichen Text dort lesen.

Mit dem Kommunisten telefoniert. Das erste Mal seit sieben Jahren.
Ich soll für ihn arbeiten. Soll ich?

Das Herz schwer. Wegen allem.

Und fast hätte der Kaminfeger den Hund überfahren. Nicht auszudenken.

Arghs

Und dann werde ich auch noch in ein Gespräch über das Wandern gezogen. Mein Jakobswegerbrechen konnte ich mir gerade noch verkneifen. Warum kann die Menschheit heutzutage eigentlich nichts mehr tun, ohne ein Riesengeschiss drum zu machen?

Ein Kind zeugen
Ein Sojaschnitzel essen
Zu Fuss gehen
Eine Gurke anbauen

Es werden Fachbücher gelesen, Funktionskleidung gekauft und dann endlos darüber schwadroniert. Nix gegen die Leistung Dinge an sich, aber es wird schon so viele Jahre gevögelt, vegetarisch gegessen, gewandert und Gemüse angebaut. Ja. Wir wissen das. Das kann man alles machen. Aber bitte nicht so laut.

Eigentlich bin ich über was anderes empört. Ne, wen anders.

Wann war ich nochmal im Urlaub?

Schwanken

Als ich vor ein paar Tagen etwas ungelenk durch das Provençalische Hinterland kletterte, befiehlen mich wieder einmal Demut und Dankbarkeit. Und die Erinnerungen an das Jahr 2003. An einen Sommer voller Tränen und die Gewissheit, dass mein Leben nun zu Ende sei. Keine Reisen mehr, keine Spaziergänge, keine Freude, keine Zukunft.

Ein knappes Jahr habe ich kaum von der Diagnose erzählt. Irgendwann fand ich, ich müsse meinen Freunden erklären, was mich so verändert hatte. Gesehen hat man nämlich nichts. Oder nur, wenn man ganz genau hinschaute. Jemand, der es sehr gut mit mir meint, hat bisher dafür gesorgt, dass ich zwar nicht mehr so richtig geradeauslaufen kann und mich beim Abstieg auf steinigen Wegen schneckenflink bewege, ABER ICH BEWEGE MICH, selbständig! Ich empfinde das als ganz großes Geschenk. Immer wieder. Seit zehn Jahren.

Ausser uns

Gewohnt haben wir malerisch, weit oben mit Blick auf Dächer, Kirche und ein funkelndes Kraftwerk, zusammen mit Susi und Walter. Die beiden waren ruhig und unkompliziert, nur wenn die Sonne rauskam, hatten sie nichts als an Sex im Kopp. Wäre uns egal gewesen, hätte es nicht immer so einen lauten dumpfen Schlag getan, wenn Walter Susi von hinten nahm (oder andersrum). Besonders laut kam es uns vor, wenn wir im selbst im Bett lagen, um uns ein bisschen von der aufreibenden Kreativität zu erholen. Sind übrigens Zwillingsbrüder. Hat sich später rausgestellt. Wir haben noch versucht, sie mit frischem Obst zu beruhigen. Mit bescheidenem Erfolg. Also ohne.

Ansonsten praktisch keine Geräusche. Die Gassen des Dorfes sind so eng, dass keine Autos fahren. Überall Treppenstufen. Nachts das Streiten der Käter, der Kauz sitzt in der schwarzen Zypresse und ruft Kiwitt in die klare Nacht. Die Kirchturmuhr schlägt jede halbe Stunde, die vollen zweimal, um drei wache ich auf. Immer. Aus wirren Träumen. Mit alten Bekannten.

Nachmittags scheppern Kinder auf Skateboards die steilen Gassen runter. Sonst nur das Geräusch des Zeigers der sich rasant auf der Sonnenuhr bewegt. Schatten: Der einzig harte Kontrast. Alles andere von milchigem Staub überzogen. Auch meine Füße. Auch Susi und Walter. Auch die Gedanken.

Es gibt eine Bäcker, der machmal von seiner Frau verlassen wird, dann brennen die Croissants an, einen Metzger, der winkt, wenn man vorbei geht, den TABAC, gut sortiert, und das Café de Commerce mit seinen vier Sorten Pastis. Dekoriert von Trophäen des Stierclubs. Ein Hotel mit Springbrunnen. Einen Friedhof. Die Bushaltestelle. Keinen Bus mehr seit zwei Wochen.

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Vive la France

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Trotz tiefstsitzender Abneigung gegen den Aniskümmelfenchelselleriekanon hab ich mich vor lauter Flair hinreißen lassen, des Abends dieses Zeug zu trinken. Übermorgen gibt es wieder was Ordentliches: Schneeregen und Lohnarbeit.

Letzter Abend in Marseille: Vor lauter Fußschmerz und Restkörpererschöpfung muss ich heute Abend im Internet rumhängen statt Treppen zu steigen. Wenn ich wieder gehen kann, gibt es Bildlein. Und Bildleinunterschriften.