Feuchte Musenküsse

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Die Menschen am Bodensee sind ja mächtig stolz drauf, wer da, vor allem auf der Höri, alles schon gewohnt hat. Zum Beispiel mein Lieblingsfreund, der Herr Hesse, von dem ich gerade las, er wollte sich in seiner Zeit in Gaienhofen jeden Morgen erschiessen, floh so bald er konnte nach Indien. Oder der Herr Dix, der es hier zum Kotzen schön fand. Und Peter Scher, ein vergessener Dichter, meinte der Bodenseezustand ist der Zustand seelischen Verblödens.

Der F. und ich, (die wir, obwohl es so scheint, nicht immer unterschiedlicher Meinung waren) hatten einmal eine Auseinandersetzung zum Thema Inspiration. Ich beklagte wieder die Gentrifizierung Ostberlins und jammerte den besseren Zeiten von gekachelten Bars und leeren Lücken (niedlich, taz von 2002, wenn Herr Ingenhoven geahnt hätte) nach. Fand, wenn ich gezwungen wäre, Kunst zu produzieren (was ich glücklicherweise nicht bin), zöge ich nach Peking oder Istanbul. Oder irgendwo anders hin, wo es dreckig ist und kompliziert. Jedenfalls nicht nach Neukölln, Prenzlauer Berg oder Mitte, wie die Flut junger Kunstschaffender, die sich ungebremst Jahr ein, Jahr aus über die Glockenbachviertel Berlins ergiesst.

Der F. fand, die Inspiration müsse von innen kommen, und fiele einen an oder nicht, egal, wo man wohne. Man könne also genauso gut in der Idylle der Unterseelandschaft verstörende Videoinstallationen schaffen oder in Nussdorf politisch brisante Belletristik erzeugen. Mag sein.

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Mich ergreift sie dennoch nicht. Woanders täte sie es ganz bestimmt (kein Grund, mich zu erschiessen oder nach Indien auszuwandern und wie gesagt, ich muss nicht).

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Atelierfenster putzen geht ja auch. Ist bestimmt gut gegen sehr schlechte Laune. Und vielleicht nach B. nächste Woche. Nach Hohenschönhausen. Oder Istanbul.

2 Gedanken zu „Feuchte Musenküsse

  1. kid37

    Wenn man bedenkt, wie groß Istanbul ist, fand ich es eher klein. Also aus touristischer Sicht. Von der Besucherritze aus. Vielleicht bin ich auch nicht so empfänglich für Großstadtverzauberung, in Berlin ging es mir auch nicht anders, von der Besucherritze aus, und da war ich häufiger als in Istanbul. In London in den 80ern war es anders. Das empfand ich als sehr inspirierend, brodelnd, lebendig, voller Geheimnisse, Abenteuer. Vielleicht war ich einfach nur 30 Jahre jünger. Und kreativer. Nicht auszudenken, es hätte mich damals an den Bodensee verschlagen.

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  2. montez

    Das ging mir in London ebenso (aber das ist ja nun auch nicht mehr das) und ist m.E. nur wenig eine Altersfrage, sondern hängt mit dem Ort als solchen und dem Grad der eigenen Abgeklärtheit zusammen.

    Und vielleicht ist es für mich auch weniger die Grossstadt an sich, sondern eher das Ungezähmte, Versehrte, Versiffte. Eine Umgebung, die ich nicht auf Anhieb erfassen kann. Zuletzt war das so in Glasgow. Wenn ich noch mal studieren müsste, dann da.

    Ein junger Mann hatte weder jetzt noch vor 30 Jahren einen Grund, am Bodensee zu sein, ausser er ist Surflehrer.

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