Ja, klar, ich weiß, daß da ein Sommer war. War wohl nicht der schlechteste. Ein Gefühl gibt es dazu nicht. Wenn ich die Zeit von Juni bis September denke, eine Zeit, in der ich sonst an jedem Tag am Ufer gammle, in diesen See springe und abends bunte Sachen trinke, denke ich an Sorgen, quälende Unruhe und an Beklommenheit. Dreimal vielleicht war ich beim Baden. Denk ich an den Hubschrauber, der im Weizenfeld des Nachbarn landete Meine Güte, der drückt ja das Getreide platt, daß ich staunte, wie er aufsetzte, ohne viel Schaden anzurichten. Wie der Imker in diesem Moment vorbeifuhr und mir winkte, ich zurück, wie er mir andermal erzählte, er mußte eigentlich ganz woanders hin und vor lauter Schreck geradeaus über die Kreuzung fuhr. Wie mir die Tränen in die Augen schossen, als der Helikopter abhob und ich mitten auf der Straße stand und heulte. Was soll jetzt werden.
An die vier Krankenhäuser, zu denen ich in diesem sogenannten Sommer reiste und daran, dass ich probierte, zu lernen, den Gedanken an der Greisin Endlichkeit zu denken, ohne sofort rot zu sehen. Klappt so mittel inzwischen. An die Zickzacklinien in den verschiedenen Kästen neben den verschiedenen Betten, von denen man ebenso den Blick nicht wenden kann wie von den halbnackten Damen in den italienischen Quizshows in einer neonbeleuchteten Trattoria. Im Fernseher über der Küchentür. Daran, daß eine Diagnose und mögliche Behandlung direkt die nächsten Maßnahmen nach sich ziehen sollte, daran dass die Chirurgen die Messer schon in den Händen hielten, und wenn ich die Greisin nicht mit Gewalt da rausgerettet hätte, wäre sie vermutlich tot. Oh, Herzversagen, da haben wir gar nicht dran gedacht. Aber auch an Ärzte die besonnen waren, die geduldig erklärten, abwägten und gute Ratschläge erteilten.
Ich denke an die beiden Reisen, die wie stille Inseln in diesem sogenannten Sommer liegen, an die Freunde, die für mich so lange Haus, Hund, Pferd und Greisin (ICH MUSS NICHT GEHÜTET WERDEN!!!) gestreichelt haben, an Langeland und das fast wortlose Ballett mit der Politikerin, die ungewohnte Harmonie, an den warmen Wind, der auf Mittelmeer gemacht hat. An die Provence, den Versuch ein Bild zu malen, an den Gestank und die Farben von Marseille, an die verklemmten Freier, die durch meine Straße schlichen, ganz beiläufig. Und die Damen mit den faltigen Dekoltees, wartend auf den Treppenstufen beim Hotel. An die aufgerissenen Augen des Taxifahrers Was, DA wohnen Sie?
An den Anruf um 11 Uhr 52, am Tag des großen Eingriffs, bis zwölf hatte der Chirurg mit den samtigen Augen gesagt, er melde sich. An mein lautes Heulen, nach dem Auflegen und die hellhörigen Wände der trutschligen Pension, es hat sich vermutlich angehört, als schlachte ich ein Tier in meinem Zimmer. Und daß ich nicht mehr aufhören konnte. Nach Wochen des Zusammennehmens.
Ja, ich weiß. Sie ist bald 83. Das ist alt. Da kann man schon mal sterben. Schon klar. Bin ja nicht blöd.
Sie ist meine Lieblingsmitbewohnerin (und ja, ich hatte schon sehr viele) und meine beste Freundin, und natürlich meine Mutter, und ja, ich weiß, daß die Psychologen da jetz die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Ist mir scheißegal. Ich hätt gern noch ein paar Jährchen. Für uns. Mit weniger Blaulicht. Die Chancen stehen gut, sagen die Ärzte.
Es gab schon mal ein Jahr ohne Sommer. Das Jahr meiner eigenen Diagnose. Es war heiß. Mir war elend. Ich lag tagsüber auf einem Liegestuhl unter einem Baum, daheim. War gerade raus aus dem Krankenhaus. Wenn ich einnickte (nachts schlief ich nicht) schreckte ich nach wenigen Sekunden hoch und dachte, ich ersticke. Essen ging auch nicht. In diesem Sommer lernte ich die eigene Endlichkeit kennen. Mit der bin ich auf Du und Du inzwischen. Glaub ich. Das eigene Sterben. Macht mir viel weniger Angst.